Quelle: https://www.bundeswehr.de/resource/blob/92006/6bb5099b8a4626820458cf184e0e191d/pol-is-data.pdf
10. Juli 2023

POLIS – 2

Plötzlich Staatsministerin

Was geht mich die Landverminung in Kambodscha an? Was habe ich mit der Frauenbewegung in Arabien zu tun? Was kümmert mich der Müllberg in Europa? Viel, denn ich bin nun die Ministerin dafür. Ich bin Teilnehmerin der Welt-Simulation „Politik und Internationale Sicherheit“ und habe für drei Tage Verantwortung für eine ganze Region der Welt. Mit mir sitzen, stehen, reden und verhandeln weitere 43 Jugendliche aus Sternberg und Schwerin um die Belange der Menschheit.

Ich hätte nie gedacht, dass ich in so kurzer Zeit einen Einblick in die politischen Verhältnisse meiner Region bekomme und in noch kürzerer Zeit eine Ahnung von den Zusammenhängen der internationalen Politik. Mir wird bewusst, dass mein Bemühen um das Wohl meines Landes von so vielen Faktoren abhängt und wie weit, oder besser gesagt, begrenzt die eigenen Möglichkeiten sind, dieses zu gestalten.

Aber von vorne: Als wir bei der Vorstellung des Planspiels durch Frau Hauptmann Dichanz von der Simulation erfuhren, war ich nicht gerade mega angetan, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie das alles funktionieren soll. Es gäbe da zehn Regionen auf der Welt, wie zum Beispiel Europa, Russland, Indien, Südamerika, Arabien, etc, die jeweils mit vier Ämter zu besetzen seien. Eine Regierungschefin, einen Umweltminister, eine Staatsministerin und einen Wirtschaftsminister. Mit diesem Team müsse die Region „regiert“ werden, was bedeutet, dass die Menschen genug zu essen, Arbeit und ausreichend Konsumgüter haben. Außerdem sind die Regionen, wie in der echten Welt übrigens, in internationale Verpflichtungen eingebunden (Wirtschaftsverträge, Abrüstungsverträge, militärische Partnerschaften, etc), die auch mitgedacht und fortgeführt werden sollten. Das klingt für eine nur mittelmäßig an Politik interessierte Person erstmal nicht unbedingt interessant.

Aber es kam ganz anders. Dort in Jägerbrück (irgendwo im Osten MVs) fuhren wir in eine groß angelegte Kasernenanlage (Truppenübungsplatz), die nach echtem Militär aussah. Soldatinnen und Soldaten standen vor den Blöcken und rauchten, trugen große Rucksäcke durch die Gegend und grüngeflecktes Großgerät rollte über die breiten Straßen. Wir rückten in das ehemalige Offizierheim ein und bezogen im Obergeschoss in einem vorbereiteten Raum die Plätze. Kleine Flaggen zierten die Tische, Regelhefte, Nachschlagewerke und Spielfiguren warteten auf uns. Einige von uns besetzten das UN-Sekretariat, andere meldeten sich zur Weltpresse, wieder andere wurden zu Aktivisten bei den NGOs von Greenpeace und Amnesty International (Nicht-Regierungs-Organisationen). Ca. vierzig von uns erhielten per Los ein Amt in einer Region. Ich wurde damit zur Staatsministerin von China und wählte den Namen Chi Chi Peng. Dass ich damit auch für die Proteste der Minderheit der Uiguren im Nordosten meiner Region zuständig war und für unser Atomwaffenarsenal und für die Verhandlungen mit anderen Regionen, das wurde mir dann spätestens bewusst, als ich mit meinen Staatsministerkollegien und -kollegen an der Weltkarte saß und die Bemühungen um Frieden oder Krieg der anderen mitbekam. Plötzlich wurde es spannend. Plötzlich erkannte ich, dass Wohl und Wehe meiner Region auch von mir abhing. Plötzlich wurde ich wichtig. Hatte ich in der Beratung mit meinem Präsidenten und der Wirtschaftsministerin alles richtig verstanden? Bekam ich das nötige Geld für die Abrüstung? Sollte gegen die Uiguren tatsächlich mit Politzeigewalt vorgegangen werden? Wollten wir uns mit eigenen Truppen bei der Bekämpfung des IS in Syrien beteiligen? Plötzlich war ich Staatsministerin und plötzlich war Weltpolitik meine Sache.

Und dann war Mittagessen. Lange Schlange vor der Ausgabe und vor uns die breitschultrigen Feldwebel mit den beeindruckenden Bärten und den kryptischen Zeichen auf den Schultern. Links am Tisch die uniformierten Frauen und Männer, die so einen entschlossenen Gesichtsausdruck hatten. Aha, das sind also die Soldaten, die sich auf die Einsätze vorbereiten, die wir an der POLIS-Weltkarte als Politikerinnen beschließen. Wahrscheinlich sind sie als zivile Menschen Familienväter und -mütter, die freitags bei Norma einkaufen gehen und sonntags in den Hansapark fahren. Irgendwie ahnte ich, dass ich als Entscheiderin auch über Leben und Tod von Menschen zu befinden hatte.

Während der drei Tage verflog die Zeit wie im Flug. Die Simulation teilte sich in verschiedene Arbeitsphasen, die alle zeitlich getaktet waren und uns streng mit den jeweiligen Arbeitsaufträgen beschäftigten. Doch gerade das fiel mir gar nicht als belastend auf. Ich war ja mit Verhandeln, Reden schreiben, Truppen stationieren, Absprachen treffen, in andere Regionen „fliegen“ beschäftigt. Die Presse beobachtete unser Tun und wir alle erfuhren, dass ein falsches Wort durchaus auf internationales Echo traf oder auch andere beunruhigte.

Unsere Region erhielt in jedem POLIS-Jahr neue Herausforderungen, auf die wir zu reagieren hatten. Wir mussten uns Gedanken machen, wie wir damit umgehen und Maßnahmen ergreifen. Diese kosteten natürlich Geld und brachten wieder Probleme hervor. Aber wir spürten, dass man mit klugen Ideen etwas verändern kann. Natürlich waren wir frei, es auch nicht zu tun. Aber auch das hatte Folgen. Die Probleme wurden dadurch meistens größer.

Viele der Probleme überstiegen die eigene Region. Hunger, Armut, Drogen, klimatische Verschärfungen, illegaler Waffenhandel und anderes betrafen nicht nur eine Region und forderten eigentlich ein gemeinsames internationales Vorgehen. Aber wie schwer war das. Wer wollte den Anfang machen und sich mit dem eigenen, dringend benötigten Geld oder mit Gütern irgendwo anders engagieren? Plötzlich war es nicht mehr so weit her mit den vollmundigen Plädoyers für Frieden und Wohlstand auf der Welt…

Im zweiten POLIS-Jahr fing die Bevölkerung unserer Region an zu hungern. Unser Wirtschaftsminister hatte zu wenig darauf geachtet, dass der Handel alle unsere Bedarfe befriedigte. Da war die Frage aus der Region Südostasien vor der Weltöffentlichkeit durchaus berechtigt: Warum herrscht in so einem reichen Land wie China so erbärmlicher Hunger?

Doch nicht nur uns in China verschaffte die Spielleitung rauchende Köpfe. In Nordamerika musste die Fettleibigkeit angegangen, in Südamerika die Abholzung des Regenwaldes, in Japan die Folgen der andauernden Erdbeben, in Südostasien die Landverminung, in Arabien die Frauenrechte, in Indien die Unterdrückung der Rohinya, und so weiter.

Puhhh. Die Tage waren voll. Die Köpfe noch mehr. Aber es war irgendwie auch bewegend, wie wir 16jährigen die echte Welt zu unserer erklärten und sie zu gestalten versuchten. Das Essen in der Truppenküche holte uns dann wieder auf den Boden der eigenen Körperlichkeit zurück. Es war reichhaltig, abwechslungsreich und – man wollte es erstmal gar nicht glauben – schmackhaft. Die Unterkünfte in den Kasernenblöcken dafür umso spartanischer. Bett, Stuhl, Schrank. Und Wollmäuse. Aber, vor dem Block war ein Beachvolleyballfeld aufgebaut. Das war am Abend in der Sonne ein wunderbarer Ort der Bewegung und des Ausgleichs. Wem der Sand an den nakten Füßen zu heiß war, der konnte Billard spielen oder Tischkicker.

Die Jugendoffiziere waren eine Klasse für sich. Mit ihrer Professionalität, sowohl bei ihrem Wissen als auch in ihrem freundlichen, wertschätzenden Umgang mit uns, haben sie die Simulation zu einer sehr wertvollen Veranstaltung gemacht. Die gute Organisation, der maximale Erkenntnisgewinn und die Einblicke in fremde Welten (Bundeswehr, Sicherheitspolitik, Schülerinnen und Schüler aus einer anderen Schule, etc) waren durchaus gewinnbringend.

Aber ich hab´ aber nun keine Zeit mehr zu schreiben. Bei uns in China herrscht Kinderarbeit und Kinderverschleppung. Da muss was `gegen getan werden…

[gh]

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